Wie es den Einsiedler Bruder Klaus in den Zürcher Verkehr verschlug
Was Bruder Klaus mit scheuen Waldtieren gemeinsam hat. Wie aus dem Obwaldner Einsiedler ein verzweifelter Zürcher Verkehrspolizist wurde. Was ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht auf einem Kirchenfenster in mir auslöste. Weshalb ich 45 Jahre nach meinem Kirchenaustritt über einen Heiligen schreibe und die Kirche meiner Kindheit neu entdeckt habe.
Am 6.11.2024 habe ich wieder einmal die römisch-katholische Kirche Bruder Klaus an der Winterthurerstrasse in Zürich besucht. Das war mal «meine Kirche», bevor ich mich vom katholischen Glauben, ja von der Religion überhaupt verabschiedete. Dort wurde ich als katholisches Kind in der Zwinglistadt Zürich sozialisiert. In der Bruder-Klaus-Kirche wurde ich auf die Kommunion und die Firmung vorbereitet, ging eine Zeitlang regelmässig zur Beichte und zur Messe.
Ich fahre mit dem Tram regelmässig an der Kirche vorbei, aber erst kürzlich habe ich die riesige Statue von Bruder Klaus bewusst wahrgenommen. Sie steht am Fuss des Kirchturms und blickt auf die Winterthurerstrasse hinaus. Nicht, dass der hagere Heilige irgendwie freundlich schauen und mich zu einem Kirchenbesuch ermutigen würde. Im Gegenteil: Er zeigt seine Zähne, man könnte sogar sagen, er fletscht sie fast, und er hat seinen Mund weit aufgerissen, wie wenn er schreien wollte. Vielleicht hat er ja allen Grund dazu, angesichts der Dinge, die sich in den rund 90 Jahren, die er an diesem Platz steht, vor seiner Kirche bzw. in der Welt draussen abgespielt haben.


Der Bildhauer Alphons Friedrich Magg (1891–1967) hat Bruder Klaus als hageren, bärtigen Mann mit Stock und «Bätti», einer Gebetsschnur mit 50 Perlen, dargestellt.
Fotos: Daniela Rinderknecht
Zum Schreien zumute – oder einfach hungrig?
Vielleicht hat er aber auch bloss Hunger. Denn Bruder Klaus soll in den letzten 19 Jahren seines Lebens, die er in seiner Klause in der Obwaldner Ranftschlucht verbracht hat, ausser der heiligen Kommunion nichts mehr zu sich genommen und lediglich Wasser getrunken haben.

Blick von der Unteren Ranftkapelle auf die Obere mit der Klause von Bruder Klaus (links) in Flüeli-Ranft OW. Ich habe den Ort im Oktober 2021 besucht.

Der sehr einfache Aufenthaltsraum in der Klause. Durch das Fensterchen konnte Bruder Klaus nach draussen schauen.

Durch dieses vergitterte Fenster sah Bruder Klaus in die Kapelle.
Fotos: Daniela Rinderknecht
Vom wohlhabenden Bauern zum Asketen
Bevor er sich im Alter von 50 Jahren in die Einsamkeit zurückzog, war Niklaus von Flüe (1417–1487), wie er mit bürgerlichem Namen hiess, ein für die damaligen Verhältnisse wohlhabender Bauer. Er war Ratsherr, Richter und Soldat. Als Offizier nahm er am Alten Zürichkrieg teil.
Wenigstens wartete er mit seinem Entschluss, Einsiedler zu werden, bis das älteste seiner zehn Kinder, sein Sohn Hans, zwanzig und damit alt genug war, die Familie als Bauer zu ernähren. Das jüngste Kind war damals noch kein Jahr alt. Niklausʼ Frau Dorothea soll jedoch mit seinem Plan einverstanden gewesen sein.
Eigentlich hatte Niklaus vor, sich auf Pilgerschaft zu begeben, als er im Oktober 1467 los zog. Doch er soll schon bald im Windental oberhalb von Liestal BL von einer Vision ereilt worden sein, die ihn veranlasste, nach Obwalden zurückzukehren und sich in der Ranftschlucht, ganz in der Nähe seines Hauses, als Einsiedler niederzulassen.

So hell und weit hatte ich die Bruder-Klaus-Kirche nicht in Erinnerung.
Foto: Daniela Rinderknecht

Gekniet wird hier nur noch wenig, und dafür gibts Schemel unter einzelnen Stühlen.
Foto: Daniela Rinderknecht
Bequeme Stühle statt harte Kirchenbänke
Doch zurück zu Bruder Klaus in Zürich und der Kirche meiner Kindheit. Obwohl mich der eher grimmig drein blickende Heilige nicht gerade in seine Kirche hineinzuwinken schien, zog es mich nach über 40-jähriger Abstinenz doch hinein.
Welche Überraschung: Ich stehe in einer hellen, entschlackten Kirche, die nur mit den nötigsten Elementen ausgestattet ist. Statt der engen Kirchenbänke aus hartem Holz sind da luftig und locker ein paar bequeme Stühle aufgestellt. Und da stellt sich mir gleich die Frage: Müssen die heutigen Katholikinnen und Katholiken nicht mehr knien? Mit den Kirchenbänken sind auch die kniekillenden Kniebretter verschwunden. Beim näheren Hinschauen entdecke ich unter ein paar Stühlen Schemel – offenbar für die diejenigen, die am Knien festhalten.
Die Kanzel, von der unser Pfarrer noch predigte, wurde ebenfalls abgebaut. Und die Beichtstühle sind auch weg, dafür gibt es jetzt ein Gesprächszimmer und eine Spielecke für die Kleinen. Die Glasfenster sind zwar noch vorhanden, aber die nur spärlich möblierte und geschmückte Kirche wirkt auf mich viel heller und weiter, als ich sie in Erinnerung hatte.

Alte Glasfenster, spärlicher Schmuck.
Foto: Daniela Rinderknecht
Wenn der liebe Gott ein Auto schickt ...
Eine weitere Überraschung erwartet mich in der Krypta. Das Glasfenster von Max Rüedi zeigt nicht die üblichen biblischen Szenen, sondern u.a. eine Fahrerflucht: Ein Auto fährt vom Unfallort weg, die blutüberströmte verletzte Person wird einfach liegen gelassen. Ich kann es kaum glauben, dass dieses Glasfenster damals schon da war. Und obwohl ich im Vorfeld meiner Erstkommunion von 1967 oft in der Kirche war, kann ich mich nicht erinnern, es je gesehen zu haben, geschweige denn je in der Krypta gewesen zu sein.
Erinnern kann ich mich aber an eine Episode aus dem frühesten Religionsunterricht, der uns von einer Nonne erteilt wurde. Ich habe keine Ahnung, was sie damit erreichen wollte – vielleicht die Allmacht Gottes aufzeigen? Auf jeden Fall erzählte sie uns, dass wir beim Überqueren einer Strasse noch so gut aufpassen könnten, wenn es Gottes Wille sei, könnten wir trotzdem jederzeit von einem Auto überfahren werden.
Das muss man sich mal vorstellen! Kurz zuvor hatte uns ein Verkehrspolizist «Warte, luege, lose, laufe» beigebracht, d.h. dass es sicher ist, eine Strasse zu überqueren, wenn man sich zuvor versichert hat, dass kein Auto kommt.

An das Glasfenster mit der Fahrerflucht konnte ich mich nicht mehr erinnern.
Foto: Daniela Rinderknecht

Foto aus meinem Familienalbum
Barmherziger Samariter statt Fahrerflucht
Gemäss Wikipedia (aufgerufen am 7.11.2024) wollte der Künstler Max Rüedi, der das Glasfenster mit dem Auto geschaffen hat, in Anlehnung an eine Vision von Bruder Klaus die Werke der Barmherzigkeit im Zeitalter des technischen Fortschritts darstellen. Also Barmherziger Samariter statt Fahrerflucht!
Als ich die Kirche verlasse, rollt der Verkehr auf der Winterthurerstrasse, einer Hauptverkehrsachse, unverwandt weiter. In unmittelbarer Nähe gibt es zwar Fussgängerstreifen mit Ampeln, auf denen man die verkehrsreiche Strasse sicher überqueren kann. Aber Bruder Klaus hat von seinem Platz aus sicher schon viele Unfälle und vorbeirasende Ambulanzen beobachtet.
Nach über 90 Jahren sollte er sich langsam an den Verkehr gewöhnt haben. Dieser ist seit der Kirchweihe 1933 stetig gewachsen. Mitte der 1920er-Jahre zählte man im Kanton Zürich noch 9 Automobile auf 1000 Einwohner*innen.¹ 2023 waren es 482 pro 1000 Einwohner*innen.²
Aber für einen Einsiedler, der von der Aussenwelt abgeschirmt in seiner abgelegenen Klause gelebt hat, ist es wohl immer noch schwierig, ungeschützt am Strassenrand zu stehen und mit dem Stadtzürcher Verkehr zurecht zu kommen.
Vielleicht deshalb steht er so verloren da, den Blick ins Leere gerichtet, den Pilgerstab an die Brust und die Hand mit den Gebetsperlen fest an seine Flanke gedrückt. Und vielleicht ist ihm gar nicht nach Schreien. Vielleicht stösst sein weit geöffneter Mund einfach einen Seufzer oder einen Schmerzenslaut aus, weil er den Verkehr nicht mehr ertragen kann.


Ausschnitt aus einer Postkarte von ca. 1935: Damals gab es noch nicht so viel Verkehr auf der Winterthurerstrasse. Zwischen der katholischen Bruder-Klaus-Kirche (rechts) und der reformierten Paulus-Kirche (links) befand sich einst das Restaurant Freihof (Mitte). Ob in diesem wohl am Sonntag sowohl Protestant*innen als auch Katholik*innen einkehrten, nachdem sie in getrennten Kirchen die Messe besucht hatten?
Foto: Baugeschichtliches Archiv
Der 1931 errichtete Rehbrunnen befindet sich vis-à-vis der Bruder-Klaus-Kirche. Während der Heilige Richtung Stadtzentrum blickt, schauen die Rehe Richtung nahem Park und Wald. Die Schöpfer der beiden Skulpturen ahnten wohl nicht, dass sich die Winterthurerstrasse zu einer Hauptverkehrsachse entwickeln und so gar nicht mehr dem bevorzugten Lebensraum des Einsiedlers und der scheuen Waldtiere entsprechen würde.
Foto: Baugeschichtliches Archiv / Photoglob Wehrli & Vouga
Verzweifelter Verkehrspolizist oder Retter der Schweiz?
Was also Bruder Klaus von den Veränderungen hält, die er auf seinem Platz am Fuss des Kirchturmes in den über 90 Jahren mitbekommen hat, kann ich nur erahnen. Ich denke, er hätte heute noch mehr gute Gründe, sich in seiner Klause in der Ranftschlucht einzuschliessen. Doch vielleicht harrt er ja auch bewusst an diesem Standort aus. Als zeitgemässer Heiliger, wie wir ihn schon im Glasfenster in der Krypta kennengelernt haben, symbolisiert er ein Mahnmal des Verkehrs. Wie ein verzweifelter Verkehrspolizist, der es aufgegeben hat, das Verkehrschaos auf seiner Kreuzung zu lenken. Bruder Klaus ist also an der Winterthurerstrasse in Zürich genau am richtigen Platz!
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal über einen Heiligen schreiben würde. Aber Bruder Klaus ist in der Schweiz kein gewöhnlicher Heiliger. Er gilt als Schutzpatron des Kantons Obwalden und als Landespatron. Dank seiner «riesigen leuchtenden Hand», die am 13. Mai 1940 am Himmel über Waldenburg BL erschien, soll die Schweiz vom Zweiten Weltkrieg verschont worden sein. Man sprach fortan vom Wunder von Waldenburg.
Übrigens: Heilig gesprochen wurde Bruder Klaus erst 460 Jahre nach seinem Tod (1947). Die Bruder-Klaus-Kirche wurde jedoch bereits 1933 auf seinen Namen geweiht, wofür es die ausdrückliche Bewilligung des Papstes brauchte.